Pressegespräch

 Das Nachfolgende habe ich am 15. 05. 2013 im Zug auf der Fahrt von Mannheim über Frankfurt/M. nach Neumarkt (Oberpfalz) geschrieben aus Anlass des   Pressegesprächs in Neumarkt / Fragen vonKatrin Böhm, Redaktion Neumarkter Tagblatt

Guten Abend, Herr Herz,

wir werden uns zwar morgen Mittag bei einem Pressegespräch in Neumarkt treffen,

die Neumarkter GEW-Kreisvorsitzende Sigrid Schindler hat mich aber darüber informiert,

dass Sie schon im Vorfeld ein paar Fragen beantworten würden, da die Zeit morgen ja begrenzt sein wird. – Ich hoffe, die Fragen kommen nicht zu kurzfristig!

Ich würde mich freuen, wenn Sie die Fragen trotz der Kurzfristigkeit beantworten könnten –

oder wenn Sie mir einfach morgen darauf antworten. Herzlichen Dank dafür!

*

Am 16. 05. 2013 ist eine sehr gekürzte und geringfügig redigierte Fassung

erschienen im Neumarkter Tagblatt unter der Überschrift

Er ist nicht Precht – aber ein Reformer

Der Philosoph Richard David Precht will die Schule revolutionieren –

Otto Herz auch. Aber auf seine Weise.

Am Mittwoch sprach er in Neumarkt.

 

Hier mein vollständiger Text auf die Fragen der Redakteurin Katrin Böhm:

– Als Schulrevolutionär ist derzeit der Philosoph und Autor Richard David Precht in aller Munde. Sehen Sie Parallelen zwischen Prechts Forderungen und Ihren Ansichten – und wenn ja, wo?

 

Wir brauchen eine grundsätzlich und nachhaltig andere Schul-Kultur in einer anderen Schul-Struktur. Schul-Struktur und Schul-Kultur bedingen sich wechselseitig.

Kinder und Jugendliche sollen in EINER Schule für ALLE, einer Schule der VIELFALT in der GEMEINSAMKEIT, gemeinsam aufwachsen bis zum Ende der Sekundarstufe I, also bis zu einem Alter von ca. 16 Jahren. Das dient den Individualitäten und gleichzeitig dem Gemeinwohl. Das nimmt den Schulen den Selektionsdruck, der wie ein Krebsgeschwür das deutsche Schulwesen schwächt und belastet. Das ist ein entscheidender Beitrag zu mehr Chancengerechtigkeit und Chancengleichheit. Druck und Angst blockieren das Lernen, das Leisten und die Lebens-Lust. SINN-volle Anreize und lebensrelevante Anregungen fördern dagegen die Lern-, die Leistungs- und die Persönlichkeits-Entfaltung. – In diesem GRUND-legenden Denken stimme ich mit R. D. Precht überein. – Mit dem Wort REVOLUTION bin ich – im Bildungszusammenhang – vorsichtig(er). Obwohl ich mich, wie gesagt, auch für einen grundsätzlichen Wandel im Schulwesen – schon seit fast 50 Jahren und vor allem konkret und praktisch – einsetze: bei Revolutionen werden meist als erstes Menschen umgebracht und Paläste in die Luft geprengt. Das passt nicht zu einer humanen und solidarischen Schul-Kultur in einer inklusiven Schul-Struktur.

 

– Precht fordert unter anderem,

die Noten und das Sitzenbleiben abzuschaffen – Ihre Meinung dazu?

 

Ziffern-Noten sind untauglich für inhaltlich spezifische und differenzierte Würdigungen

von Lern-Anstrengungen und Leistungs-Ergebnissen. Ziffernnoten sind Instrumente der Selektion in scheinobjektiver Tarnung. Deswegen bin ich auch schon seit 50 Jahren gegen Ziffern-Noten und für sehr viel klügere, vor allem auch dialogische Formen der Rück-meldung zwischen allen Beteiligten am Lehr-Lernprozess. Rückmeldungen, neudeutsch: feedback, müssen zum Leisten ermutigen, Leistungen anregen, sie fördern und heraus-fordern – durch persönlich sensible und sachlich korrekte Wert-Schätzung.

 

Wenn Kinder und Jugendliche – in Abstimmung mit ihren Eltern und Lehrern – von sich

aus sich wünschen, in eine andere Klasse zu wechseln und den gesamten Lehrstoff eines

Jahres in allen Fächern zu wiederholen: dann mag das im Einzelfall eine sinnvolle Einzel-Fall-Entscheidung sein, gegen die ich mich nicht sperren würde. – Generell aber ist das verfügte und viel zu häufige „Sitzen-Lassen“ keine für die Lern- und Sozial-Entwicklung förderliche Maßnahme. Sitzen-Lassen ist eine teure Maßnahme mit meist kaum einem lernfördernden Effekt. – Sinnvoll und sinnvoller als das Sitzen-Lassen ist eine gezielte individuelle Förderung in den Bereichen, in denen Leistungsdefizite festzustellen sind.

 

– Wird an Schulen tatsächlich zu viel „sinnloser Unterrichtsstoff“ gelehrt,

den die Schüler viel zu schnell wieder vergessen?

 

Ja!!! – Ich, Sie, wir – fast – alle sind doch der Beleg für diese Feststellung. Worauf es aber ankommt: wir müssen den Kindern und Jugendlichen mehr Zeit einräumen und mehr Möglichkeiten eröffnen, dass sie den Fragen nachspüren können, für die sie sich jeweils

interessieren. Das ist der wirksamste und nachhaltigste Weg zur individuellen Lern-,

Leistungs- und Persönlichkeitsförderung.

 

– In welchen Bereichen wären dringend mehr Projekte

statt klassischer Unterrichtsfächer nötig?

 

Ein Projekt ist die Suche nach einer konkreten Lösung eines als bedeutsam erkannten

und darum selbst-gewählten Problems. Eine kompetente Problemlösung ist meistens auf ein handlungsfähiges, interdisziplinäres Team angewiesen. Mindestens 1/3 der schuli-schen Lern- und Arbeits-Zeit sollte in diesem Sinne Projekten gewidmet sein. Die Methoden, Fragen, Wissensbestände der klassischen Unterrichtsfächer werden durch Projekte auf-, nicht ab-gewertet; gerade auch dadurch, dass die Methoden, Fragen und Wissensbestände der klassischen Unterrichtsfächer auf die Probe gestellt werden, was

sie zur Lösung bedeutsamer Probleme tat-sächlich beizutragen in der Lage sind.

 

– Precht spricht von Schulen als „Lernfabriken, die Kreativität töten“

und sagt, dass die deutschen Schulen zu den schlechtesten weltweit gehören.

Ist es wirklich so schlimm?

 

Wer sich medial inszenieren möchte, mag diesen Weg der Anklage, der Abwertung, der Katastrophen-Szenarien gehen: und dabei, wie zu erleben ist, auch medialen Erfolg haben. – Für den als notwendig erkannten und vielfach und vielseitig begründeten grund-legenden Wandel im Schul- und Bildungswesen habe ich meine Sprach-, Gestaltungs-

und Handlungs-Energie in der Weise vor allem einzubringen versucht, dass ich mitwirk(t)e bei der Initiierung, Realisierung und immer wieder Weiter-Entwicklung von konkret vorzeigbarer, erlebbarer, im besten Falle ansteckender Praxis. In diesem Sinne

möchte ich – u. v. a. – die Bielefelder Laborschule und das Bielefelder Oberstufen-Kolleg nennen, aber auch mein „A-B-C der guten Schule“ …

 

– Auch Sie fordern, nicht die Menschen dem System anzupassen,

sondern das System so zu gestalten, dass sich Menschen darin wohl fühlen.

Wie kann das funktionieren?

 

Auf hunderterlei Weise … – Bei der Platz-Beschränkung, der sie sicher unterliegen, vielleicht nur dieses eine Beispiel als anstiftender Ansporn:

Kinder und Jugendliche arbeiten möglichst oft und in vielen Bereichen an Themen,

die sie sich selbst gewählt haben, weil sie sich dafür interessieren; sie können sich die Mitschülerinnen und Mitschüler wählen, mit denen sie in vielfältigen Formen gemeinsam eine Sache erarbeiten; in Zeit-Räumen, die dafür notwendig sind, nicht zerhackt durch

mechanisierte, nicht immer wohl klingende Klingeltöne; sie entscheiden auch, welche erwachsene Person in der Schule, aber auch von außerhalb der Schule, sie ansprechen und sich auswählen, weil diese Person(en) für sie am besten geeignet sind, sie im Lern- und Arbeitsprozess anzuspornen und zu unterstützen. Klassenarbeiten als eine Form der organisierten Fallenstellerei entfallen, weil die Lern- und Arbeitsteams das in und außer-

halb der Schule präsentieren, was sie erarbeitet haben. Und dann gibt es ebenso kritisches wie aufbauendes Feedback. Das meine ich, wenn es heißt, die bisherige Schule „auf denKopf“ zu stellen … (Und wer jetzt immer noch und immer wieder fragt und nachfragt, wie soll das gehen, insistierendes fragen finde ich gut, dem und denen biete ich an: ich komme in Deine, in Ihre Einrichtung, und dann tun wir den Schritt vom Wort zur TAT in entsprechenden Schul-Entwicklungs-Prozessen. Denn wir wissen doch schon von

Erich Kästner: es gibt nichts GUTES, außer man TUT es!)

 

– Auch auf anderen Ebenen macht man sich Gedanken um die Bildung,

zum Beispiel beim Bauernverband. Der Bayerische Bauernverband etwa fordert, das Fach „Lebenskunde“ oder „Alltags- und Lebensökonomie“

in den Unterricht aufzunehmen. Hintergrund sei, dass viele Schüler

gerade mal eine Tiefkühlpizza in den Ofen schieben, aber nicht mehr kochen können und auch von Putzen und Waschen nur noch wenig Ahnung haben. Wie ist Ihre Meinung dazu?

 

Mehrfach war ich Referent bei Bundestagungen des Bundesverbands Lernort Bauernhof und habe – mit großer Resonanz, mit breiter Zustimmung – mein Briefkopfmotto anschaulich ausgeführt: „Im Leben lernen – im Lernen leben,

also Leben lernen: gesund, ökomomisch, ökologisch, sozial, nachhaltig, inter-, multi- und transkulturell, geschichts-bewusst und zukunftsfähig … –

Gerne tausche ich mich mit dem Bayerischen Bauernverband aus,

ob er diesen Weg nicht auch für den richtigeren und wichtigeren hält:

nicht das Leben immer mehr zu ver-schulen, sondern die Schule eher zu ent-schulen; oder: Lebenswelten als Lernwelten aufspüren, sie erkunden, an ihrer Ausgestaltung mitwirken, also liebens-werte Lebenswelten gestalten. –

Als Anhänger einer Ganztags-BILDUNG schon lange bevor auch konservative Kreise auf den Ganztagsschul-Dampfer aufgesprungen sind, sage ich

– hoffentlich – hinreichend unmißverständlich: … wenn aber die Ganztagsschule nur die Fortsetzung der falschen Halbtagsschule über den ganzen Tag wird, dann wird die Katastrophe nach einer solchen Einführung

noch größer sein als sie jetzt schon ist …

 

– Sie haben selbst die Odenwaldschule besucht und waren zehn Jahre lang Mitarbeiter von Hartmut von Hentig, der als enger Freund des damaligen Schulleiters wegen der sexuellen Übergriffe öffentlich ebenfalls in der Kritik stand. Wie sehr hat der sexuelle Missbrauch an der Odenwaldschule, die in diesem Bereich als Vorzeige-Institution galt, der Reformpädagogik geschadet?

 

Die 3 Jahre, die ich die Odenwaldschule zwischen 1962 und 1965 als Industrie-stipendiat besuchen und dort Abitur machen durfte, waren und sind für mich das Glück meines Lebens. Ich weiß sehr genau, dass das für viele, sehr viele andere Schülerinnen und Schüler und Mitarbeiter, wie dort die Lehrerinnen und Lehrer seit der Gründung der Odenwaldschule im Jahre 1910 heißen – auch gilt.

Umso entsetzlicher für mich und die vielen Freunde und Förderer der Odenwaldschule, dass ausgerechnet an diesem Kraftquell für Viele und, wie Sie sagen, an dieser „Vorzeige-Institution“, Verbrechen an Kindern begangen wurden.

Wenn sie dann nach „Schaden“ fragen, dann denke ich zuerst an den Schaden, der diesen missbrauchten Kindern und Jugendlichen erwachsen ist – und hoffe und wünsche, dass sie sich von diesem Schaden befreien konnten und können,

dass sie Unterstützung der je geeigneten Art dabei erfahren …

Der Schaden, der daraus meinem positiven Verständnis von Reformpädagogik erwachsen ist, ist kaum zu ermessen. Dennoch – oder gerade deswegen – schwöre ich der Reform-Pädagogik nicht ab, verdamme sie nicht in Bausch und Bogen, widerspreche der cruden These, dass es die heimlich-unheimliche Absicht von Reformpädagogik/Reformpädagogen gewesen sei, sich an Kindern zu vergreifen. Ich versuche statt dessen zu klären und aufzuklären, gute Beispiele zu benennen und zu schaffen, wofür Reformpädagogik stand, steht, zu stehen hat und gerade auch heute – mehr denn je – gebraucht wird.

Als in meiner Selbst-Sicht – und meist auch aus Fremd-Sicht – wachsamer und kritischer Mensch habe ich keinen Grund, Hartmut von Hentig in Wesentlichem Vorwürfe zu machen, gar ihn anzuklagen. Hartmut von Hentig hat nach dem II. Weltkrieg in und für Deutschland – wie kaum ein zweiter – entscheidende Beiträge in Theorie und Praxis geliefert für eine Kinder und Jugendliche achtende, sie schützende, sie anregende, sie anspornende und sie aufbauende Pädagogik.

Seine Zusammenfassung des Auftrags von Pädagogik und auch Politik

„DIE MENSCHEN STÄRKEN, DIE SACHEN KLÄREN“ bleibt genial. –

Ich bin zutiefst dankbar, dass ich zehn Jahre (s)ein enger Mitarbeiter sein durfte.

 

– Der Untertitel Ihres Vortrags in Neumarkt lautet: Was macht eine gute Schule wirklich gut? Zusammengefasst: Was sind die wichtigsten Anhalts-punkte dafür? Was können Schüler, Eltern und Lehrer dafür tun,

dass eine Schule gut ist?

 

Wirklich gut:

(1) Gerne möchte ich nochmals auf mein „A-B-C der guten Schule“ verweisen: dort ist gesagt, was eine gute Schule auszeichnet: von A wie „Eine Atmosphäre der Achtung, der Anerkennung und der Akzeptanz aufbauen“ bis zum Z „Zufriedenheit zeigen und Zuversicht immer wieder zutrauen und zuMUTen“.

Auch meine „13 Maßstäbe für eine gute Schule“ möchte ich empfehlen:

von „Eigenaktivität fördern“ bis zu „Dem Geist der Utopie Räume eröffnen“.

 

(2) Eine gute Schule ist heute inklusiv.

* Sie verhilft allen Einzelnen und der Gesellschaft, dass wir immer besser das Zusammenleben in der Vielfalt der Welt-Gesellschaft lernen.

* In der guten Schule ist Lernen eine gute Erfahrung, die zum lebenslangen Lernen inspiriert und motiviert.

* Und: in der guten Schule lernen alle möglichst viel intelligentes Wissen.

Wissen also, das weiterhilft, wenn das Gedächtnis versagt,

wenn die Routinen nicht mehr greifen.

Nur intelligentes Wissen ist zukunftsfähig und zukunftsgestaltend.

Intelligentes Wissen sich anzueignen, sich zu erarbeiten ist ein anderer Vorgang

als das Vollstopfen von Kinder-Köpfen mit immer mehr Stoff bis zur geistigen Verstopfung.

 

(3) Ich könnte auch sagen: in der guten Schule entfaltet, ereignet und verbreitet sich BILDUNG als SELBST-BILDUNG. – Unter BILDUNG verstehe ich:

 

„BILDUNG

ist die andauernde Bereitschaft

und das nachhaltige Bemühen,

sich selbst,

die Menschen und die Menschheit,

die Welt und den Kosmos,

gründlich, jedenfalls im Grundsatz,

zunächst verstehen zu wollen;

um dann

– selbst-bewusst und sozial-verantwortlich –

diese Welt

so

mit-zugestalten,

dass sie lebenswert bleibt;

noch besser:

dass sie noch liebenswerter wird.“

 

Sie fragen: „Was können Schüler, Eltern und Lehrer dafür tun,

dass eine Schule gut ist?“

Sie, Schüler, Eltern, Lehrer und Partner aus dem Gemeinwesen, die Schul-Leitungen

sind dabei auch sehr wichtig, verstehen sich als Verantwortungs- und Handlungs- Gemeinschaft auf dem Weg, aus meinem A-B-C auch zu realisieren

– das B: die Bedürfnisse aller Beteiligten in all ihrer Besonderheit beachten;

– das F: sich fehler-freundlich ferhalten;

– das Q: sich mit der Qualität des Querdenkens quälen;

bis schließlich alle Buchstaben ihn ihrem neuen Verständnis tat-sächlich gelebt werden in allen Alltagen.

 

Schulen – und andere Bildungsstätten – in diesem Entwicklungs- und Entfaltungs- prozess zu begleiten, sie zu unterstützen, wie dieser Weg, der oft auch mit Stolper- steinen reich „gesegnet“ ist, ist ein wesentlicher Teil meines Engagements.